Was Tacheles und Techtelmechtel mit Tango verbindet.

Neues von der Tangomuddi. Heute mit ein paar Denkanstößen zum Thema jüdisches Leben in Deutschland. Auslöser waren meine sechs Wochen Zwischenmiete in der Wohnung eines israelischen Studenten. Zur Schlüsselübergabe kamen meine beiden Kinder mit. Die achtjährige Naseweise hat gleich direkt und unverblümt Fragen zu Israel und der hebräischen Sprache gestellt. Das fand ich super, denn ich muss ja zugeben, als von meinem Schulsystem und der Schuldfrage geprägte Deutsche hätte ich wohl eher nicht nachgefragt. Wie bescheuert, denn eigentlich würde ich doch gerne mehr über die jüdische Kultur erfahren. So wie sie heute hier von jungen Menschen in Deutschland gelebt wird. Meine eigenen Berührungspunkte mit Jüdinnen und Juden beschränken sich auf einen Besuch im Gordon, ein jüdisches Restaurant/ Plattenladen in Berlin, den Moment, als ich in Zürich das erste Mal in meinem Leben eine jüdische Familie in religiöser Kleidung an mir vorbeilaufen sah, Literatur und Filme, und den Kontakt zu einigen israelischen und amerikanischen Jüdinnen und Juden, die gemeinsam mit mir in China studierten. Immerhin.

In Deutschland ist die jüdische Kultur, wie ich finde, eher wenig sichtbar. Gut, hier und da finden Klezmer-Konzerte statt, die sind auch schön, aber das ich ja nun nicht wirklich die gelebte Kultur von heute. Kleiner Exkurs, jüdische Einflüsse gibt es auch im Tango. Bei genauerer Betrachtung gar nicht verwunderlich, denn der Tango als solches ist ja ein riesiges Konglomerat an kulturellen Einflüssen. Das Pariser Elektro-Tango-Ensemble Gotan-Project beispielsweise sieht viele Berührungspunkte zwischen dem Tango und dem Judentum. Eduardo Makaroll und Philippe Cohen-Solal, Mitglieder der Band, sind der Meinung, dass das Feeling von Tango dem des Klezmers und des jiddischen Liedes sehr ähnlich ist. Vor allem was die Melancholie betrifft.[1] Übrigens, wusstet ihr, dass auch viele amerikanische Weihnachtslieder von jüdischen Songwritern geschrieben wurden? Nein? Dann schaut Euch mal die Musik-Doku Dreaming of a Jewish Christmas an.

Auffällig ist die hohe Assimilationsfähigkeit jüdischer Gemeinden an die Kultur ihres jeweiligen Heimatlandes. Spricht man über Kultur – gemeinhin als die Lebensweise eines Volkes in Bezug auf Lebensraum, Traditionen und Sprache definiert – stellt sich ebenfalls die Frage nach der Identität. Sowohl der kulturellen aber auch der nationalen oder gemeinschaftlichen/ sozialen Identität. Kulturelle Identität beruht auf der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten, die aber eben nicht unbedingt an eine nationale Kultur gebunden ist.

Besonders deutlich wurde mir das beim Hören des Podcast JLID 2021– insbesondere dem Gespräch zwischen der jüdischen Autorin und Schriftstellerin Mirna Funk und der jüdischen Psychologin und Beteiligungspädagogin Marina Weisband. Marina Weisband, Inhaberin einer doppelten Staatsbürgerschaft, steht, wie viele nach Deutschland immigrierte Jüdinnen und Juden, noch heute in einem Spannungsfeld der Selbstwahrnehmung ihrer nationalen Identität. Auf dem Pass ihres Herkunftslands, der Ukraine, ist sie als Jüdin und nicht als Ukrainerin vermerkt, auch wird in dem Land nicht mehr, wie noch unter sowjetischer Führung, russisch gesprochen, sondern ukrainisch, eine Sprache, die sie wiederum nicht gelernt hat. Andererseits fühlt sie sich auch nicht explizit deutsch. Sehr wohl jedoch der deutschen Gesellschaft zugehörig. „Wenn ich von Deutschen spreche, dann spreche ich immer in der dritten Person (…) es ist für mich befremdlich, mich selber Deutsche zu nennen, weil es sich anfühlt, als würde man mir etwas nehmen, was mein ganzes Leben zu mir gehörte, nämlich das nicht-deutsch sein. (…) Ich musste so viel damit kämpfen, zu überleben in einer Gesellschaft von Deutschen als nicht Deutsche. Als jemand, der so oft zuhause für Dinge ausgeschimpft wurde, die in der Schule richtig waren und andersrum.“ Marina Weisband in JLID 2021, 20.1.2021.

Einen ebenfalls sehr spannenden und sehr aufschlussreichen Einblick in die Gedanken junger Juden aus Deutschland zum Thema Antisemitismus gab mir wiederum ein Podcast-Beitrag von realitäter:innen im Gespräch mit Mirna Funk und Leo Schapiro, Vorstandsmitglied des queer-jüdischen Vereins Keshet e.V.. Danke für den weiteren Realitätscheck. Hier wurde mir klar, dass immer noch unglaublich Vorurteile und Klischees über das Judentum existieren und eben heutzutage wieder neu entfacht werden in Form abstrusester Verschwörungstheorien. Hört Euch diese Podcast-Folge auch unbedingt an, wenn Ihr Zeit findet. Ihr könnt nur dazulernen.

So, ich bin gespannt, welche Einblicke in das Leben, Sichtweisen, Erfahrungen und die Identitätsfragen der jungen jüdischen Gemeinschaft mir im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“  2021 noch zuteilwerden. I’ll keep my ears and eyes wide open. So should you!

A la prochaine, Eure Tangomuddi

P.S. Abschließend ein cooles Musikvideo vom Gotan-Project und ein paar Buch- und Filmempfehlungen:

Filmtipp:

Masel Tov Cocktail” (2020) von Arkadij Khaet & Mickey Paatzsch

Ein Kurzfilm, der mit Ironie und etwas Sarkasmus zeigt, was es heißt, als jüdischer Jugendlicher in Deutschland aufzuwachsen.

Buchtipps:

Mirna Funk

Die Romane “Winternähe” (2015) und “Zwischen Du und Ich” (2021) habe ich noch nicht gelesen, aber inzwischen bestellt, bzw. vorgemerkt und freue mich schon sehr auf die Lektüre!

Marceline Loridan-Ivens, Judith Perrignon

Und du bist nicht zurückgekommen

Ein sehr bewegender 110-Seiten Brief, welchen Marceline Loridan-Ivens im Alter von 78 Jahren ihrem Vater schrieb, mit dem Sie im Alter von 16 Jahren deportiert wurde, der jedoch im Gegensatz zu ihr nie zurückkam.

Marceline Loridan-Ivens beginnt ihren Brief mit dem Unvermögen sich der Zeilen eines Briefs ihres Vaters zu erinnern, welchen er ihr ins drei Kilometer entfernte Birkenau schmuggeln ließ. Zeilen die, so ihre rückblickende Sicht, schlichtweg zu viel Liebe enthielten. Ein Gefühl, das im Lager verdrängt werden muss, um nicht daran zu zerbrechen.

An der Leere, welche das nicht-Zurückkehren des Vaters hinterlässt, geht die Familie Jahre später nach und nach zugrunde. Einzig die Tochter, deren Zurückkehren anstelle des Vaters seitens der Geschwister als herbe, lebenslange Enttäuschung empfunden wird, weigerte sich unterzugehen, denn ihr Vater hatte ihr den Auftrag gegeben zu überleben.


[1] „Argentinien ist ein Einwanderungsland. Viele Juden aus Osteuropa kamen hierher. Das moderne Argentinien ist das Resultat der italienischen, spanischen, europäischen und jüdischen Immigration. Die jüdische Gemeinde ist sehr bedeutend in Argentinien. Es ist die zweit- oder drittgrößte in der Welt, glaube ich. Der Tango ist sehr jüdisch, das Feeling von Tango ist dem des Klezmers und des jiddischen Liedes sehr ähnlich. In den Anfangszeiten wurde Tango noch mit der Klarinette gespielt und nicht wie heutzutage meist mit dem Bandoneon. Trotzdem gibt es manchmal auch heute noch die Klarinette im Tango. Und auch die Geige haben die osteuropäischen Juden mit in den Tango mitgebracht.“ Philippe Cohen-Solal in die jüdische Allgemeine, 18.5.2006.

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3 Antworten zu “Was Tacheles und Techtelmechtel mit Tango verbindet.”

  1. Hallo Sarah, vielen Dank für Dein Kompliment. Ja, äußerst spannend, ich bin die letzten zwei Wochen komplett eingetaucht!

    Wie Du tanzt auch Tango??? Ich hatte Dich bislang immer unter der Frau, die alles über getrennt erziehende Eltern weiß, abgespeichert.
    Oh, dann sind wir uns ja in Köln womöglich schon über den Weg gelaufen!

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