Alle Jahre wieder schimmert elektrifiziertes Grünzeug aus Vorgärten und Balkonen. Lausitzer Sterne und Erzgebirgische Schwibbögen bescheinen die Straße. Bei Nieselregen, Heizungsluft und Weihnachtsgedudel beginne ich herzliche Botschaften an die Verwandtschaft zu formulieren. Oma schwingt sich die Schürze um und vollbringt ein architektonisches Meisterwerk aus Lebkuchenteig. Mein Mann sticht auf die Küchenfläche ein, um kleine krümelige Keksdinger zu produzieren. Willkommen im Wonnemonat Dezember. Sie nähert sich, die innige Glückseligkeit, die uns alljährlich unterm Tannenbaum vereint.
Während ich meinen Überlebensplan rund um Adventsgesänge, Weihnachtsmärkte, -feiern und -bazare entwerfe, denke ich sehnsüchtig an eine Zeit, als ich Weihnachten gekonnt ignorierte und entgegen aller Gepflogenheiten ganz in Ruhe inmitten von sonnenbeschienenen Sanddünen verbrachte…
“Wow, this sand is so clean” murmelt Allan. Dabei rudert er glückselig mit seinen Armen und Beinen, so dass ein Sandengel auf dem Wüstenboden erscheint. Ein kleiner Marokkaner schenkt süßen Pfefferminztee aus. Nach einer Winternacht im Beduinenzelt staunen wir nicht schlecht, als uns die Sanddünen der marokkanischen Wüste hell entgegenstrahlen.
Wir, das sind zwei Amerikaner, ein Ire, ein Franzose, eine Deutsche und Allan. Wir genießen die Zeitlosigkeit zwischen den Feiertagen und dem neuen Jahr.
Ein marokkanischer Passagier-Dampfer brachte mich nach Tangier. Zwei Übernachtungen und Verpflegung, eine marokkanische Mutti und ihre vier Kinder inklusive. Von Tangier aus fahre ich mit dem Bus nach Casablanca. In einer Jugendherberge mache ich schnell neue Bekanntschaften. Zu dritt durchstreifen wir die Straßen der marokkanischen Hauptstadt bei Nacht.
Am nächsten Tag schließe ich mich den Reiseplänen eines weiteren Backpackers an. Ein Bus bringt uns ins Hohe Atlas Gebirge. Wir mieten eine kleine Holzhütte und früh morgens beginnen wir die Besteigung des höchsten Berg Marokkos. Der جبل توبقال (Jbel Toubkal) gipfelt 4167 Meter über dem Meeresspiegel. Das ist ziemlich hoch, aber der Weg ist zum Glück nicht schwer zu gehen. Um die Jahreszeit sind wir zwei so gut wie alleine auf dem Berg unterwegs. Wir laufen die meiste Zeit schweigend hintereinander her. Unsere Begleiter – der strahlend-blaue Himmel und eine überwältigende Aussicht auf die umliegenden Berge. Mit den ansteigenden Höhenmetern wird die Landschaft zunehmend felsiger. Irgendwann steigen wir nur noch über steile Schotter-Serpentinen in eine karge Steinwüste. Weit und breit graue Felsen und keine Menschenseele. Irgendwann erreichen wir Schnee- und Eisfelder und montieren Spikes an die Wanderschuhe.



Bei meinem Gefährten machen sich inzwischen leichte Anzeichen von Höhenkoller bemerkbar. Er wird schusselig. Bei einer Rast am Hang nimmt er seine Isomatte vom Rucksack und sie fliegt den Hang hinab ins Tal. Wird ungemütlich heute Nacht.
Es beginnt zu dämmern und wir stellen unser Zelt auf blankes Eis. Meine Isomatte legen wir dann quer. Aber trotz des Schlafsacks, der angeblich auch bei Temperaturen von -20 Grad warmhält, friere ich erbärmlich. Auf dieser Höhe kann ich nicht einschlafen. Stunden bevor die ersten Sonnenstrahlen aufgehen, setzen wir unseren Anstieg fort. Befestigte Wege gibt es hier nicht mehr. Unter meinen Füßen wechseln sich Schnee, Eis und Schutt ab. Obwohl uns die Sonne inzwischen beleuchtet, nehme ich meine dicke Wollmütze nicht mehr vom Kopf, denn ein eisiger Wind pfeift um die Felswände. Während wir stetig an Höhe gewinnen, spüre ich, wie die immer dünner werdende Luft an meinen Kräften zehrt. Die letzten Höhenmeter schleiche ich mehr als dass ich gehe.
Und plötzlich ist der Gipfel in Sichtweite. Die letzten Meter laufen sich plötzlich wie von alleine.
Geschafft! Yeah!!!!
Der Toubkal ist zwar ein leichter Viertausender, aber hey – er ist einer!

Ich genieße die Endorphine.
Für den Abstieg lassen wir uns Zeit und laufen in die dunkle Nacht hinein. Es ist Heilig Abend und der Sternenhimmel umhüllt uns. Irgendwann spät kommen wir in unserer Holzhütte an.
In den folgenden Tagen fahren wir mit dem Bus Richtung Westen nach Merzouga. Vorbei an den tiefen Schluchten des Atlas-Gebirges, durch Oasen und Bergdörfer. Zwischenstopp in Ouarzazate. Wir stapfen durch die Filmkulissen von „Die Mumie“. Das eigentliche Highlight der Führung sind nicht die Filmrequisiten, welche hier und da vor uns auftauchen, sondern die Spaghetti, die unser Guide später in seiner Wohnung auftischt.



In Merzouga kommen wir bei einer Großfamilie im gemeinsamen Geschwisterzimmer unter. Keine Ahnung wie wir da reingestolpert sind. Jedenfalls nehmen wir am gemeinsamen Abendmahl teil. Es gibt Harira. Der Name dieser Suppe hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt, damit ich sie mir nie, nie mehr, wirklich niemals irgendwo aus Versehen bestelle. Ein Geschmack von ranziger Butter lässt meine olfaktorischen Glocken Alarm schlagen. Drei Löffel davon und ich bin fix und fertig. Wie schaffe ich das Zeug unbemerkt aus meiner Schüssel? Aufessen werde ich meine Suppe auf keinen Fall! Ausgeschlossen. Ich will mich nicht vergiften. Letzten Endes erbarmt sich mein Reisebegleiter und tauscht unbemerkt seine leere gegen meine volle Schüssel aus.



Am darauffolgenden Tag stoßen wir auf zwei junge Amerikaner und Allan, den Hippie-Opa. Zu fünft buchen wir spontan einen Kurztrip in die Sahara mit Übernachtung im Beduinenzelt. Wir leihen uns Snowboards und segeln entspannt die Dünen herab. Später auf dem Markt schlüpfen wir in Djeballas – bodenlange Kapuzenmäntel. Abends füllen wir unsere hungrigen Mägen mit frischer Grillplatte vom Nachtmarkt.



Ausgeruht fahren wir zurück ins belebte Marakkesh. Die Silvesternacht wollen wir – Marokko hin oder her – nicht gänzlich nüchtern verbringen. Bei den Preisen reicht unser Budget jedoch gerade mal für zwei Bier pro Person. Immerhin. Kein Kater am nächsten Morgen.
Langsam rückt das Ende meiner Auszeit in Sicht. Ich packe meinen Rucksack und fahre zurück nach Tangier. Dort genieße ich ein letztes Mal den süßen marokkanischen Pfefferminztee. Diesmal im sagenumwobenen Café Hafa, einem Terrassencafé über den Klippen des Mittelmeers. Ich mache mir ein paar Urlaubsnotizen und fühle ein wenig dem Freiheitsrausch nach, in welchem schon Bourroughs die weiße Stadt an der Meerenge von Gibraltar erlebte. Nieselregen, ein letzter, verirrter Spaziergang durch eine abgelegene Slumsiedlung an der Küste entlang. Marokko, Weihnachten war schön bei Dir.

Eine Antwort zu “Bergsteigen in Marokko”
Du besitzt tolle Schätze. Danke fürs Teilen. Lieben Gruß
Elena
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