Eine gepolsterte Jugend zwischen Blumenwiesen und Bergseen hinterlässt Spuren. Soviel geballte Idylle verlangt nach einem dramatischen Tapetenwechsel. Nichts wäre naheliegender als eine knackige Feldforschung am anderen Ende der Welt! Bitte so richtig weit weg. So weit weg, dass sich die Entfernung garantiert weder mit der Bahn noch per Anhalter bewerkstelligen lässt. Anlass: Abitur-Abschlussarbeit. Wohin? Abstecher auf die Philippinen zu den Straßenkindern aus Manila. Abstriche in puncto Nachhaltigkeit sind da unvermeidbar. Aber was soll’s, dafür gibt’s zahlreiche Punkte aufs Abenteuerkonto!
Am Frankfurter Flughafen übergab der Vater die Tochter der großen Freiheit und wischte sich beim Abschied verlegen ein paar Tränen von der Wange. Das war’s dann wohl, Kindheit ade. Und die Tochter? Von wegen Scheiden tut weh. Auf, auf und davon. Und das bitte zügig!
Binnen kürzester Zeit, und zwar direkt nach dem Abflug sollte sich bereits das Leitmotiv dieser Reise offenbaren: Vorurteile über Bord werfen und Ohren spitzen! Mein Sitznachbar war ein amerikanischer Muslim. Er entsprach keinem einzigen der heute gängigen Klischees. Wie komme ich am ehesten in Kontakt, klar, einfach mal grinsen. Die Reaktion kam prompt: „Usually in the plane I don’t talk to my seat neighbours, but you look friendly.” So begann das erste Gespräch auf meiner ersten richtig großen Reise. Während der nächsten Stunden erfuhr ich dann viele interessante Dinge über einen mir bis dato gänzlich unbekannten Kulturkreis.
Angekommen in Manila Airport, prasselte eine Fülle an neuen Gerüchen und Gesichtern auf mich ein. Der Menschenmasse folgend, gelangte ich über die Gepäcksausgabe zum Ausgang des Flughafens. Familienangehörige wurden in Empfang genommen, Kinder in den Arm genommen und gedrückt. Rucksacktouristen zu Taxen gelockt. Der gesamte Vorplatz sprühte vor Fröhlichkeit und Leben. Auch ich entdeckte glücklicherweise in der Masse eine kleine Menschengruppe, die meinen Namen auf einem Pappschild in die Luft hielt. Über Umwege hatte sich im Vorfeld meiner Reise eine hilfsbereite Philippina dazu bereit erklärt, mir Unterkunft zu gewähren. Und schon tauchten wir ein, in ein unfassbar dichtes Gedränge aus Mofas, Bussen und Autos.
Gleich zu Beginn lernte ich die, auf diesem Planeten wohl mit Abstand rumpeligste Methode sich fortzubewegen kennen: per Jeepney. Und zwar sind das zu Kleinbussen umgebaute und wild bemalte Militär-Jeeps. Obwohl in den Bussen kein Mensch einen auch nur halbwegs bequem Platz findet, sind sie das gängige Fortbewegungsmittel Manilas, bis heute! Und das, obwohl ihre Dieselmotoren die übelsten Dreckschleudern sind. Zu verdanken haben die Philippinos sie den US-Soldaten, die die Dinger nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr mit nach Hause nehmen wollten. Einmal eingestiegen, zahlt man 5 Pesos und springt einfach ab, wenn man nah genug an seinem Ziel ist. Ich persönlich hatte jedes Mal, wenn wir mit so einem Teil gefahren sind, das Gefühl, der Fahrer fährt einfach dorthin, wo er gerade hinmöchte. Aber angeblich hat jedes Jeepney wohl eine ihm zugeteilte Route.
Gelandet bin ich, immerhin, in einem echten Haus, irgendwo mitten in Manila, nicht unbedingt Slum, aber auch nicht besonders vertrauenserweckend. Aber dafür ziemlich authentisch. Die Familie, bestehend aus drei Kindern, 15, 5, und 3 Jahre alt, Papa und Mama, überließ mir ein kleines Zimmer im ersten Stock. Minimalismus pur. Mehr als ein Bett war da nicht.
Tagsüber stromerte ich mit der 15-jährigen und ihren Freunden zwischen Shopping-Malls, Straßenküchen und Kirchen. Ungefähr so: „Hey Leute, lasst mal die neuesten Hello-Kitty-Shirts kucken…Ich hab Hunger, ich brauch jetzt unbedingt Squid-Balls…jo, das ist eine super coole Kirche, lasst mal schnell ne Runde beten gehen!“
Nachts kletterte mir auch mal eine dicke, schwere Ratte über die Beine.
Ganz ehrlich. Heute, nach fast 20 Jahren, kann ich mich nicht mehr an alle Erlebnisse erinnern. Es waren verdammt viele und viele davon verschwammen mit der Zeit. Eingebrannt haben sich wohl die existentiellsten. Das Waten durch knietiefes Wasser wegen Überschwemmung. Oder der starke Kontrast zwischen den hypermodernen Großstadtvillen und den bettelarmen Bretterverschlägen entlang der Bahnschienen.
Über meinen ursprünglichen Anlass, die Philippinen aufzusuchen, möchte ich Folgendes berichten: Manila hat eine extrem hohe Anzahl an Straßenkindern. Die Kinder landen auf der Straße, verbünden sich in Gangs und schlagen sich irgendwie durch. Ärzte ohne Grenzen hat, über Jahre hinweg, in der Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate Asiens, einige Kindergruppen medizinisch und sozial versorgt. Die Mitarbeiter kümmerten sich vor allem um drogenabhängige Kinder, die von Prostitution lebten oder vorübergehend im Gefängnis saßen. Ebendiese Kinder und Jugendliche hatte ich damals im Rahmen der Sozialarbeit von Ärzte ohne Grenzen für eine Woche begleitet. Warum? Schwierige Frage…




Die Kinder, die wir besuchten, huschten zwischen Autos herum, klopften an Fenster und verkauften Zeitungen, Zigaretten, Blumen oder Süßigkeiten. Sie wohnten auf Friedhöfen, auf einem Grünstreifen neben stark befahrenen Autobahnen oder temporär in einem der städtischen Gefängnisse. Teils hatten sie bereits eigene Babys. Laut den Berichten der Sozialarbeiter waren viele der Kinder mit ihren eigenen Kindern überfordert. Die gängige Droge Rugby, ein Klebstoff, der den Hunger vergessen lässt, führt dazu, dass viele Kindereltern ihre Babys vernachlässigen. Manchmal fallen Babys von Bäumen, weil die Eltern, die sie mit auf die Bäume getragen haben, high sind. Damals habe ich wahrgenommen, ohne zu verstehen. Heute, als Mutter zweier Kinder, ist mir die Vorstellung, den Straßenkindern wieder zu begegnen, kaum vorstellbar. Die Kids, die auf dem Friedhof lebten, waren um einiges jünger, als die Jugendlichen mit ihren Babys. Ich erinnere mich an eine Gruppe von fünf Jungs. Ich habe sie nicht genug kennengelernt, um irgendetwas von ihrem Schicksal zu begreifen. Die Sozialarbeiterinnen waren vielleicht so was wie Ersatzeltern für die Jungs. Immerhin jemand der sich für sie interessierte und sie in den Arm genommen hat. Inzwischen existiert das Straßenkinderprojekt von Ärzte ohne Grenzen als solches nicht mehr. Die Situation der Straßenkinder hat sich bis heute kaum verbessert. Ärzte ohne Grenzen widmen sich momentan jungen Mädchen in den Slums von Manila.


Was hat es für einen Zweck heute über die Erlebnisse von damals zu schreiben? Um nicht zu vergessen. Die Jungs aus den Gefängnissen, die sich Hoffnung machten, dass ihre Berichte irgendetwas bewirkten. Die jungen Mütter, die immer wieder aus den Gemeinschaftszentren abziehen, weil sie nur das Leben auf der Straße gewohnt sind. Und um Demut zu bewahren. Und vor allem Dankbarkeit, für all den Wohlstand, der für uns Gewohnheit ist.




Viele aufgeschlossene Menschen sind mir übrigens auf dieser Reise über den Weg gelaufen. Allen voran das Sozialarbeiter- und Ärzteteam vor Ort. Denn als ich völlig unangemeldet in Manila vor Ort bei den Ärzten ohne Grenzen aufschlug, hatten mich die Sozialarbeiterinnen vorbehaltslos bei sich zuhause aufgenommen und für eine Woche wohnen lassen. Das Schöne ist, dass man offenen Menschen immer wieder begegnet, egal wann, egal wo.
Und frei nach dem Motto: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, hier ein paar Links, zu Organisationen, die man unterstützen könnte:
Projektgruppe Malabon und Dritte Welt e.V.
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8 Antworten zu “Holprige Straßen auf den Philippinen”
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Hallo liebe Margarita, und ich freue mich, dass Dir die Geschichten gefallen! Liebe Grüße, Jennie
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Hallo liebe Elena, ich habe das Projekt gegoogelt und hänge den Facebook link an:
https://www.facebook.com/freibergfueralle/
Super, dass sich die weltoffenen Menschen in Freiberg Gehör verschaffen !!!
Liebe Grüße und bis bald, Jennie
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Danke dir sehr, auch für die links. Hier in Freiberg gibt es eine Aktion „Freiberg für alle“. Die rührigen Organisatoren werben für Respekt und Mitmenschlichkeit in unserer Stadt (die ja jetzt zum Welterbe! zählt). Daran denke ich, wenn ich deinen neuen Beitrag lese. Liebe Grüße Elena
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Danke für Deinen Beitrag, hat mich sehr bewegt. Lieben Gruß Margarita
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Hallo Sarah, vielen lieben Dank für Deinen Kommentar. Ging mir genauso, während der letzten Abende, als ich über das Thema recherchierte. Die Dokumentationen dazu sind eher schwer zu verdauen. Aber was mich freut, ist beispielsweise, dass meine frühere Schule, an welcher wir vor 20 Jahren eine Spendensammelaktion für eine Slumschule in Dhaka/Bangladesch gestartet haben, diese bis heute jährlich fortführt. Man kann also doch was bewirken! Liebe Grüße, Jennifer
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Wow, sehr, sehr interessanter Beitrag – macht mich gerade auch sehr nachdenklich. Schön, dass ich auf deinen Blog gestoßen bin und damit auf Texte wie diesen! Besonders die Beschreibung der von den Bäumen fallenden Babys hat mich berührt – ja, unser Wohlstand und das behütete Aufwachsen (vieler) unserer Kinder ist ein Glück, das wir oft gar nicht mehr sehen!… Herzlichen Gruß, Sarah
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