Oder: Greenparenting gelebt im Kinderzimmer
Okay – zugegeben, das Zimmer unserer Tochter ist nicht von Grund auf ökologisch ausgestattet. Als Nummer eins vor sechs Jahren auf die Welt kam, schrieb Papa noch fleißig an seiner Doktorarbeit und Mama bekam monatlich die üblichen 66% Elterngeld ihres mageren Praktikantinnengehaltes überwiesen. Da war an edle Vollholzmöbel bei weitem nicht zu denken. Diese Zeiten sind zwar vorbei – Papa hat den Doktor in der Tasche und Mutti eine ordentliche Anstellung – mobiliartechnisch sind wir somit nicht mehr auf den multinationalen Einrichtungskonzern aus Schweden angewiesen. Aber die damals günstig erworbenen Möbelstücke bleiben trotzdem in Gebrauch, sind ja schließlich alle noch gut in Schuss. Ein Objekt ist mir jedoch seit langem ein Dorn im Auge. Und zwar dieser raue und unbequeme Lappen auf dem Boden, der die Bezeichnung Teppich wirklich nicht verdient hat. Außer robust kann der nämlich nicht viel. Und, um im Bilde zu bleiben, liebäugele ich schon seit geraumer Zeit mit einem handgewebten Schafswollteppich aus meiner Heimat, den Allgäuer Alpen.
Grau soll er sein, denn das Zimmer ist eh schon bunt genug, und ganz wichtig: kälteisolierend und wärmend. Denn wo spielen die Kinder die meiste Zeit, wenn sie nicht gerade den Eltern auf dem Kopf rumtanzen? Ganz klar – auf dem Boden. Deshalb ist es mir wichtig, dass die Kinderpopos immer schön im Warmen sitzen. Und mein Allerwertester natürlich auch.
Die Teppichweberei – eine selten gewordene Handwerkskunst
Also beginne ich mit der Recherche. Zunächst fällt mir auf – viele Webereien gibt es hierzulande nicht mehr. Ein paar in Bayern, klar, liegt nahe, Berge, Schafe und auch eine lange Tradition der Baumwollteppiche. Eine Weberei in Hessen und eine Teppichmanufaktur in Sachsen kann ich noch finden, aber dann wiederholen sich die Einträge auf Google und mir wird nur noch Fliessbandware angezeigt.
Ich vergleiche die Auswahl der verschiedenen Manufakturen und lasse letztlich den Heimatfaktor entscheiden. Denn eine echte, von Mensch zu Mensch überlieferte Meinung einer Freundin aus Kindheitszeiten wiegt Google-Likes bei weitem auf. Zwei, drei Telefonate und mein Wunschteppich ist bestellt. Grau, gewalkt, nicht zu dünn und nicht zu dick. Und, was mich besonders freut, der Teppich wird komplett aus unbehandelter Wolle von heimischen Bergschafen hergestellt. Also natürlich und regional! Für das Walken der Wolle werden lediglich Wasser, Wärme und Reibung eingesetzt. Außerdem ist die Wolle nicht chemisch gegen Motten behandelt.
Vom Nebenverdienst der Kleinbauern zum Kunsthandwerk
Während ich zwei Monate lang in Vorfreude auf das gute Stück schwelge, mache ich mich ein wenig über die Ursprünge der hiesigen Handweberei schlau. Ich finde heraus, dass die Leinenweberei lange Zeit hauptsächlich von Kleinbauern betrieben wurde. Die Bauern sicherten sich damit einen wichtigen Teil ihres Einkommens. Aus dem Zwang zur Sparsamkeit heraus entstand auch der Allgäuer „Blache“, wie Bändel- oder Fleckerlteppiche in Allgäuer Mundart heißen. Statt ausgetragene Kleidung zu entsorgen wurde sie eben zu Bändel verarbeitet. Die Bäuerinnen schnitten die alten Baumwollstoffe in Form, nähten sie aneinander und verwoben sie kunstvoll in wunderschöne Muster. So war ausgetragene Kleidung noch lange Zeit sehr nützlich. Eins a Recycling – wie ich finde.
Mit der Industrialisierung wurde die Handweberei nach und nach vom Markt verdrängt. Nach 1945 sank die Nachfrage so stark, dass sich die Heimweberei auf kunsthandwerkliche Arbeiten spezialisieren musste. Das Aus der Genossenschaften, Ende des 20. Jahrhunderts, machte die Webtradition dann wirklich zur Rarität. Heutzutage gibt es nur noch wenige Webereien, die auf die ganz ursprüngliche Art arbeiten. Aber wie auch die Geschichte unseres Teppichs zeigt, der Kundenwunsch nach regionalen, naturbelassenen Produkten kann in Vergessenheit geratene Traditionen durchaus wiederbeleben.
Fußmassage gefällig?
Inzwischen ist unser neuer Teppich angekommen und siehe da, die Familie hängt seitdem am liebsten im Kinderzimmer ab. Übrigens habe ich auch die meisten meiner Blogbeiträge auf unserem neuen Teppich verfasst! Der Eineinhalbjährige versucht regelmäßig unter den Teppich zu kriechen und sich damit zuzudecken, so sehr kuschelig ist die neue Bodenklamotte. Ich drehe meine Runden auf dem Teppich am liebsten barfuß, denn so habe ich das Gefühl, dass meine Füße regelrecht massiert werden. Das neue Einrichtungsstück ist nicht mehr wegzudenken aus unserem Familienalltag, seltsam, dass uns das Verlangen danach nicht schon viel früher überkam.
Wir lernen die Hechenbergers kennen
Vor kurzem haben wir eine Woche Winterurlaub mit unseren zwei Kids in Pfronten, dem Geburtsort unseres Schafswollteppichs, verbracht. Dabei haben wir die „Erzeuger“ unseres Teppichs in ihrer Weberei besucht. Dort durften wir uns alles ganz genau anschauen und Fragen stellen. Empfangen hat uns Simon Hechenberger, der eigentlich Grafikdesigner ist aber inzwischen lieber die Weberei führt statt vor dem Rechner zu sitzen. Neun Handwebstühle zählen wir in dem gemütlichen Werkraum. Früher war sein Vater, Hans Hechenberger, Landwirt, aber mit dem Rückgang des Milchpreises hat sich die Familie vor rund 30 Jahren eine neue Existenz aufgebaut. Aus dem Hobby der Mutter Gertrud machte das Ehepaar kurzerhand eine Profession. Hans absolvierte die Ausbildung und Meisterprüfung zum Handweber und funktionierte den Stall zur Werkstätte und den Heustock zum Wolllager um. Die beiden Söhne Simon und Philipp wurden direkt in die Welt der Weberei mit einbezogen.

Kundschaft aus der Region und deutschlandweit
Und wer kauft so einen Teppich? Viele Kunden der Weberei kommen heute wie früher direkt aus Pfronten und Umgebung. Inzwischen deckt sich die Generation der Kinder mit genau denselben Teppichen ein, die auch schon die Häuser ihrer Eltern zieren. Aber auch nach Hamburg, Köln oder sonst wohin werden die Teppiche verschickt. Das Besondere an den Teppichen ist nämlich, dass Hans, Gertrud, Philipp oder Simon auf den persönlichen Farb- oder Materialgeschmack eines jeden eingehen können und nicht an Standardgrößen gebunden sind. Das liegt daran, dass die Webstühle ebenfalls handgefertigt sind und zwar vom Senior selbst. Hat auch den großen Vorteil, dass man bei Reparaturbedarf nicht in der Customer-Service-Warteschleife festsitzt!
Simon erzählt uns auch viel über die Wollproduktion: Wolle ist nicht gleich Wolle. Die Hechenbergers beziehen ihre Wolle aus Neuseeland oder von heimischen Bergschafen aus den Bayerischen- oder Tiroler Alpen. Zu Zeiten von Merinowollproduktion en Masse zu immer günstigeren Preisen wird auch hier in der Produktionskette an allen möglichen Positionen gewirtschaftet. Daher achtet die Familie streng darauf, dass die Wolle wirklich biologisch ist, also nicht chemisch behandelt wurde und – was wir bislang nicht kannten – garantiert ohne Mulesing gewonnen wurde. Das Mulesing bezeichnet ein äußerst schmerzhaftes Vorgehen, bei dem Schafen die Haut rund um After und Genitalien entfernt wird, zumeist ohne Betäubung, um so einem Befall von Fliegenmaden vorzubeugen. Sie wird vor allem in Australien und Neuseeland angewandt. In Deutschland ist diese grausame Technik verboten. Und was wir auch nicht wussten, handgewebt heißt nicht gleich handgewebt. Ein handgewebter Schafswollteppich muss lediglich die typischen Strukturen eines handgewebten Teppichs aufweisen, um die Bezeichnung „handgewebt“ tragen zu dürfen, ob er dabei maschinell gefertigt wurde, ist egal. Außerdem lässt auch so mancher Biohersteller aus Deutschland gerne in den Billigproduktionsländern Rumänien oder Bulgarien herstellen, Hauptsache die Wolle ist aus Deutschland. Uns ist das nicht egal!
Nach spannenden 90 Minuten werden unsere Kinder unruhig und wollen wieder raus in den Schnee um noch einmal schnell mit den Skiern den Hang hinterm Haus raufzufetzen. Schnell packen wir noch einen kleinen Wolf aus gefilzter Wolle für den Einjährigen ein, der so tapfer durchgehalten hat. Und sagen Dankeschön und Aufwiedersehn. Aber nur bis morgen, denn Simon und Philipp leiten auch die örtliche Skischule, wo unsere Kids ihren ersten Skiunterricht besuchen. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Skifahren und Nachhaltigkeit, da gäbe es sicher auch einiges zu erörtern… Bis dahin, Wolle gut, alles gut. Oder wie der Allgäuer zu sagen pflegt: „Es gibt nix bessres als ebs Guads!“
2 Antworten zu “Hier gibt es nichts unter den Teppich zu kehren!”
Toll Dein neuer Beitrag, auch ich habe Neues dazugelernt. Vielen Dank.
LikeLike
Cool. Und was gelernt habe ich auch. Danke dir sehr.
LikeLike